Halbe Wahrheiten (Rezension)
Feinfühlige Beobachtungen über das Gefühlsleben moderner Großstädter
Zwischenmenschliche Beziehungen und das Gefühlsleben von Menschen in der Großstadt stehen im Mittelpunkt von Adrian Tomines Werk Halbe Wahrheiten, das uns in der deutschen Ausgabe vom Reprodukt Verlag vorliegt. Der zunächst unscheinbar wirkende Comic, der ganz ohne Farbe auskommt, ist dabei in vielerlei Hinsicht dennoch bunt. Warum ist das so?
Ein Fall für die Paartherapie
Ben Tanaka ist 30 Jahre alt und Geschäftsführer eines kleinen Kinos. Er lebt mit seiner Freundin Miko zusammen, die es für einen Job bald schon in das weit entfernte New York zieht. Zu Beginn der Geschichte wird bereits klar: Dieses Pärchen hat mit einigen Reibungspunkten zu kämpfen. Während Miko recht liebevoll agiert und ein Faible für Identitätsfragen und höhere Kunst mitbringt, zeichnet sich Ben vor allem durch seine egozentrische Art und seinen Sarkasmus aus. Selbst bei Mikos Abreise schafft es Ben nicht wirklich Gefühle zuzulassen und der Abschied fällt erschreckend ernüchternd aus. In Mikos Abwesenheit entwickelt Ben ein Interesse an einer Aushilfskraft in seinem Kino. Doch auch Miko lässt in New York nichts anbrennen. Der große Knall ist vorprogrammiert…
Die halben Wahrheiten der Generation Z
Adrian Tomine vermag es außergewöhnlich scharfsinnig den Geist der Generation Z einzufangen. Durch das Wegbrechen alter tradierter Rollenmuster scheint Identitätsentwicklung im 21. Jahrhundert freier denn je. Dabei gibt es verschiedene Umgangsweisen mit dieser Freiheit. Während einige mit fluide Identitätsentwürfen experimentieren, betonen andere identitäre Aspekte stärker denn je. In diesem Spannungsfeld befindet sich auch der Hauptcharakter Ben Tanaka. Während Ben mit identitätspolitischen Projekten recht wenig anfangen kann, organisiert seine Freundin Miko ein Filmfestival für Amerikaner mit asiatischen Wurzeln. Adrian Tomine zeichnet in Halbe Wahrheiten mit viel Humor und dabei völlig unaufgeregt die großen Debatten unserer Zeit im Mikrokosmos der Beziehung nach.
Erwähnenswert sind hierbei auch die vielfältigen Charaktere. So ist Bens beste Freundin lesbisch und immer auf der Jagd nach neuen Erstsemester Studentinnen. Damit greift Adrian Tomine ebenfalls einen Aspekt der Generation Z auf: Lose Beziehungen und wenig Verlässlichkeit scheinen doch das Zeitalter des Online-Datings treffend zu charakterisieren. Witzig ist hier vor allem der Kontrast zu Ben, der bei Frauen recht wenig Erfolg hat und auch wenig ambitioniert mit diesen Themen umgeht.
Schwarz-Weiß und doch bunt!
Halbe Wahrheiten kommt ganz ohne Farbe aus und dennoch fühlt sich die Lektüre außerordentlich bunt an. Das liegt vor allem an der vielfältigen Darstellung von Charakteren mit unterschiedlichen Lebensentwürfen. Tomine zeichnet das Leben eines heterosexuellen Paares in der Großstadt eben so nach, wie homosexuelle Beziehungen. Dabei bedient er sich manchmal auch mit einem Augenzwinkern Klischees, ohne, dass Halbe Wahrheiten dazu neigt diskriminierend zu sein. Die Zeichnungen unterstreichen die aberwitzigen Dialoge und Interaktionen der Charaktere, ohne sich zu sehr in den Vordergrund zu stellen, weil sie auf das Wesentliche reduziert sind. Das sorgt dafür, dass die Lektüre in einem geschmeidigen Lesefluss nur allzu schnell aufgesogen werden kann.
Spaßige Lektüre, die den Spiegel vorhält
Adrian Tomines Halbe Wahrheiten ist ein durch und durch unterhaltsames Werk. Mit viel Feingefühl und einer gehörigen Portion Sarkasmus, nimmt sich Tomine den Themen unserer Zeit an. Dabei überträgt er die großen politischen Themen auf den Mikrokosmos zwischenmenschlicher Beziehungen. Das gelingt ihm besonders gut durch die stark geschriebenen Dialoge und den unterschiedlichen Perspektiven der sehr diversen Charaktere. Obwohl es in Halbe Wahrheiten durchaus auch dramatische Einflüsse gibt, fühlt sich das Gesamtwerk eher wie eine Feel-Good-Geschichte an. Beziehungsdramen und Konflikten nimmt Tomine Gewicht, in dem er sie profan und distanziert in Szene setzt. Das bietet ein außergewöhnlich großes Potenzial für die Identifikation und Selbsterkenntnis der Leser mit dem Stoff. Halbe Wahrheiten verdient eine klare Leseempfehlung!
Halbe Wahrheiten
ISBN 978-3-95640-370-5
104 Seiten
schwarzweiß
16,5 x 23,5 cm, Hardcover
Aus dem Amerikanischen von Michael Groenewald und Björn Laser
Lettering von Christian Maiwald / Font: Jean-François Rey