Ich bleibe (Rezension)
Tragikomische Graphic-Novel über Selbstbestimmung
In Lewis Trondheims (Story) und Hubert Chevillards (Illustrationen) Graphic-Novel Ich bleibe ist 2023 auf Deutsch beim Avant-Verlag erschienen und konfrontiert uns mit Fragen von Selbstbestimmung und gesellschaftlichen Zwängen. Dabei wählt Trondheim für die Story einen tragikomischen und grotesken Ansatz, der direkt zu Beginn für Irritation sorgt…
Urlaub im Süden Frankreichs
Fabienne und ihr Freund Roland kommen in einem französischen Urlaubsparadies bei Montpellier an, um dort eine Woche Urlaub zu verbringen. Dort angekommen, geschieht augenblicklich das Unglück. Eine starke Windböe wirbelt eine Reklametafel auf und sorgt für die Enthauptung Rolands. Fabienne entscheidet sich trotz der Umstände den Urlaub fortzusetzen und arbeitet nach und nach die von Roland geplanten Aktivitäten ab. Dabei trifft sie auf den einheimischen Paco, dem sie zunächst mit Skepsis begegnet, zu dem sie aber im weiteren Verlauf eine platonische Beziehung aufbaut…
Kongeniales Duo
Lewis Trondheims grotesker Ansatz geht mit den warmen und stimmungsvollen Bildern von Chevillard eine merkwürdig passende Symbiose ein. Das Verhalten der Witwe Fabienne irritiert von Beginn an, kümmert sie sich doch nicht um die Aufgaben, die Hinterbliebene normalerweise nach einem solchen Unglück zu erledigen haben. Gefühle von Trauer und Verlust werden von Beginn an von den Illustrationen Chevillards gekontert. Seine Bilder wecken Urlaubsgefühle, fangen den Spirit des Mittelmeerraumes gekonnt ein und stehen damit im Kontrast zu den Gefühlen, die der Tod Rolands auslöst. Diese Mischung sorgt für eine Ambivalenz und Befremdlichkeit, die sich bis zum Ende der Geschichte erhält.
Selbstermächtigung wider aller Zwänge
In Ich bleibe adressieren Trondheim und Chevillard Diskurse rund um die Themen Selbstermächtigung und gesellschaftliche Zwänge. Fabienne wird ihrer gesellschaftlich zugeschriebenen Rolle als Witwe nicht gerecht, weil sie sich weder um die Überführung des Leichnams kümmert, noch der Beerdigung beiwohnt. Sie irritiert, weil sie den Urlaub einfach fortsetzt und den Urlaubsplan ihres Freundes Roland abarbeitet.
Dass Fabienne offensichtlich im Schatten ihres Partners stand, zeigt der minutiös gestaltete Urlaubsplan von Roland und auch das Titelbild der Graphic-Novel. Hier sehen wir nur die Beine Rolands, der sehr selbstsicher am Strand zu stehen scheint und erst der Blick durch seine Beine zeigt eine lethargisch wirkende Fabienne, die mit angewinkelten Beinen am Strand im Schatten Rolands sitzt. Während Fabienne die von Roland geplanten Urlaubsaktionen besucht, scheint sie oft nachdenklich und abwesend. Es entsteht der Eindruck, als sei dieses Abarbeiten der Urlaubsaktionen Fabiennes Trauerbewältigung, die am Ende dazu führt, dass Fabienne symbolisch stark den Koffer ihres verstorbenen Freundes mit samt des Urlaubsplanes im Urlaubsort zurücklässt. Der einheimische Paco begleitet Fabienne bei diesem Prozess verständnisvoll und wenig aufdringlich.
Sanfte und stimmungsvolle Bilder
Hubert Chevillard fängt die Urlaubsstimmung an der französischen Mittelmeerküste mit einem Blick für Details gekonnt ein. In vielen Panels zeigt er amüsierte Urlauber, die typischen Aktivitäten, wie Strandsport, Eis essen oder Spaziergängen nachgehen. Damit setzt er einen direkten Kontrast zur Protagonistin Fabienne, die oft in den fröhlichen Menschenmassen verloren scheint. Auffällig ist die Darstellung des Gesichts von Fabienne. Die meisten Figuren in Ich bleibe haben richtige Gesichter, während Fabiennes Augen nur Punkte sind und der Mund oft als Strich dargestellt wird. Dieses Stilmittel unterstreicht besonders gelungen dieses merkwürdig lethargische Gefühl, das die Protagonistin umgibt. Besonders erwähnenswert sind auch die Panels zum Schluss der Geschichte, als Fabienne vor der Abreise noch einmal im Meer baden geht. Chevillard schafft es mit seinen Zeichnungen, diese Melancholie des endenden Urlaubs, die sich aus einer Mischung von Heimweh und dem Nachtrauern des Erlebten speist, genial einzufangen.
Poesie in Bildern
Ich bleibe verfolgt einen innovativen und grotesken Ansatz, der aber dazu führt, dass die Geschichte rund um Fabiennes Selbstermächtigung eine tiefe Bedeutungsebene erhält. Das Zusammenspiel aus befremdlichen Storyelementen und wundervoll bebilderten profanen Urlaubssituationen birgt eine unglaubliche Poesie. Auf 128 Seiten bieten Trondheim und Chevillard hier ein gefühlvolles Werk, das auch nach der Lektüre noch lange zu beschäftigen weiß. Die Illustrationen von Chevillard machen dabei große Lust auf einen Mittelmeerurlaub – hoffentlich ohne Kopfverlust!
Ich bleibe
Text: Lewis Trondheim
Zeichnungen: Hubert Chevillard
Übersetzung aus dem Französischen von Lilian Pithan
Veröffentlichung: Februar 2023 |
ISBN: 978-3-96445-089-0
128 Seiten, Hardcover
19,5 x 27 cm, vierfarbig
24,00 €