Cixin Liu – Spiegel (Rezension)

Cixin Liu Spiegel Beitragsbid

Gedankenexperiment über eine Gesellschaft ohne Geheimnisse

Im China der nahen Zukunft stößt der junge, ehrgeizige Beamte Song Cheng auf einen gewaltigen Korruptionsskandal in der kommunistischen Politlandschaft und gerät damit mitten in die Intrigen kaltherziger Führungskader. Cheng landet im Gefängnis und trifft auf einen Mann, der wortwörtlich alles weiß. Mithilfe eines Supercomputers ist es im gelungen, alle Kausalketten seit der Entstehung des Universums nachzuvollziehen. Plötzlich sind alle Beteiligten nur noch gläserne Projektionen mathematisch präziser Determinismen.

Lius Spiegel wirft wichtige Fragen der Gegenwart auf

Von einem Supercomputer, der alle Kausalketten seit der Entstehung des Universums nachvollziehen und vorherberechnen kann, sind wir weit entfernt. Was hier auf der Ebene der Fiktion verhandelt wird, wirft bei näherer Betrachtung allerdings manifeste Fragen der Gegenwart auf. Was würde mit einer menschlichen Gesellschaft geschehen, in der es keine Geheimnisse mehr gäbe und alles vorherbestimmt ist?

In gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten kann man ein Verlust von Ambiguitätstoleranz feststellen. Menschen können Widersprüche scheinbar schwerer ertragen und wünschen sich eine Gesellschaft der Eindeutigkeiten. Das zeigt sich zum einen durch exzessive Debatten über politische Korrektheit und ethisch korrekte Ansprachen, als auch durch einen verrohten Diskurs, der nur allzu schnell Debatten in binäre Kategorien wie gut oder schlecht einteilt. Wie würde eine Gesellschaft funktionieren, in der diese Uneindeutigkeiten aufgehoben wären? Liu schlägt hier kritische Töne an, „In allzu klarem Wasser kann kein Fisch mehr leben. Eine Gesellschaft, die keinerlei moralische Fehltritte kennt, ist tot.“

Spiegel gibt Einblicke in ein autoritäres Regime

Lius Gedankenexperimente scheinen direkt mit seinen Erfahrungen als chinesischer Staatsbürger verknüpft zu sein. Wie in vielen seiner Bücher gibt Liu uns auch hier wieder Einblicke in den Verwaltungs- und Kaderapparat des kommunistischen Chinas. Das Thema der Vereindeutigung gesellschaftlicher Positionen und der Austausch von Individualität gegen Konformität sind dadurch systemimmanent gegeben. Dabei ignoriert Liu aber auch nicht die Doppelmoral dieses Systems und deckt in aller Deutlichkeit auf, wie Korruption und Vetternwirtschaft gesellschaftliche Positionen bedingen.

Inspirierende Diskussionsgrundlage

Spiegel von Cixin Liu ist eine Novelle, die eine inspirierende Grundlage für Diskussionen über allzu gegenwärtige Themen bietet. Egal, welche Position man zur Political Corectness Debatte oder zur Debatte über Identitätspolitik einnimmt, Lius Spiegel-Gedankenexperiment ist in jedem Falle ein interessanter Aufhänger, um über diese Themen neu zu verhandeln.

Wenn gute Science-Fiction doch eine wichtige Aufgabe hat, dann ist es, durch Abstraktion zukünftiger Geschehnisse, Lösungen und Gedankenanstöße für das Hier und Jetzt zu finden. Liu gelingt dieses intellektuelle Glanzstück hier vorzüglich.

Cixin Liu Spiegel Cover
© Heyne Verlag

Cixin Liu

Spiegel

Novelle

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Aus dem Chinesischen von Marc Hermann

Originaltitel: 镜子(Jìngzi)

Taschenbuch, Klappenbroschur, 192 Seiten, 11,8 x 18,7 cm

ISBN: 978-3-453-31912-7

Erschienen am  09. Oktober 2017

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