Beatrice (Rezension)
Niemand stellt die Tristessen des Alltags schöner dar als Joris Mertens
Joris Mertens ist zurück und beschert uns in der deutschen Ausgabe, die kürzlich im Splitter Verlag erschienen ist, erneut eine durch und durch ästhetisch gestaltete urbane Geschichte. Bereits in Das Grosse Los konnte Mertens durch seine kunstvolle Darstellung der urbanen Architektur im Stil der Belle Époque begeistern. Mit Beatrice knüpft er stilistisch nahtlos an sein vorheriges Werk an. Warum kann Mertens auch hier wieder überzeugen?
Der Alltag von Beatrice
In Beatrice begleiten wir zunächst die gleichnamige Protagonistin bei der Bewältigung ihres Alltags. Wir sehen, wie Beatrice sich morgens im Getümmel der Großstadt im Widerschein des Lichts von Reklametafeln, Straßenlaternen und Autoscheinwerfern durch die müden Menschenmassen zur Arbeit begibt. Nach getaner Arbeit liest Beatrice noch ein paar Seiten im Bett, bevor sich das Prozedere am nächsten Morgen wiederholt. Dieser gewöhnliche Alltag, wie ihn wahrscheinlich die meisten Menschen erleben, wird plötzlich erschüttert, als Beatrice am Bahnhof eine rote Tasche findet. In ihr befinden sich Fragmente eines anderen Lebens…
Wie schön die Tristesse des Alltags doch sein kann
Die Tristessen des Alltags scheinen ein leitendes Motiv für Joris Mertens zu sein. Bereits in Das Grosse Los nahm sich Mertens viel Zeit, um den schmucklosen Alltag des Protagonisten darzustellen. Auch in Beatrice gelingt das Mertens hervorragend. Dass die Erzählung ganz ohne Text auskommt, verstärkt den Eindruck, man würde der Protagonistin schweigend über die Schulter schauen. Ihre Gedanken, Wünsche und Träume lassen sich überdies nur erahnen. Obwohl der Alltag trist und schmucklos zu sein scheint, schafft es Mertens ihn aber in eine einzigartige Ästhetik zu kleiden.
Die gemeinsame Vereinzelung im Licht- und Schattenspiel der Großstadt
Mertens Zeichnungen haben eine einzigartige Atmosphäre. Wimmelbildartige Sequenzen von Menschenmassen, die sich zwischen Werbetafeln, Autos und Straßenlaternen durch die Straßen einer an Paris angelehnten Großstadt schieben, wechseln sich mit atmosphärischen Close-ups auf die Protagonistin ab. Die Zeichnungen bringen trotz ihrer Komplexität eine ungeheure Leichtigkeit mit sich, erschafft Mertens doch teilweise aus gekritzelten Linien ganze Großstadtszenen zu inszenieren. Die lockere Linienführung bringt eine starke Dynamik mit sich, die in Verbindung mit den textlosen Bildausschnitten das Gefühl erweckt, man würde selbst im Getümmel der Großstadt unterwegs sein. Genial ist das Spiel mit Licht und Schatten. Während die Menschenmassen oft in Grau- und Blautönen durch die Gassen schieben, gibt es immer wieder kleine Oasen des Lichts. Vor allem Werbereklamen, Schaufenster oder das Innere von Zügen werden in warmes Licht getaucht. Wenn Beatrice im vollen Zug ihr Buch zum Lesen in die Hand nimmt, entsteht in Verbindung mit den warmen Lichtquellen das Gefühl, sie würde einen Moment dem Alltag entfliehen.
Ein immersives Leseerlebnis
Beatrice ist eines dieser Werke, das schnell am Stück verschlungen werden kann. Die Dynamik der gut durchdachten Bildsequenzen zieht die Leser förmlich mit sich. Dabei möchte man an vielen Stellen länger verweilen, kann Mertens doch durch die unglaubliche Ästhetik seiner Zeichnungen begeistern. Das Spiel von Licht und Schatten schafft eine einzigartige Atmosphäre, die aus Beatrice ein durch und durch immersives Leseerlebnis machen. Der Plot der Geschichte untermalt diese Atmosphäre mit einer süßen Melancholie, die märchenhaft den tristen Alltag der Protagonistin durchbricht. Beatrice dürfte für ein recht breites Publikum geeignet sein, weil die kurzweilige Geschichte kaum Zugangshürden mit sich bringt. Besonders viel Freude mit diesem Stoff werden Menschen haben, die sich in Bildern verlieren können. Auch, wenn die Geschichte relativ schnell gelesen ist, lohnt es sich, die Zeichnungen auch mal länger wirken zu lassen. Vielleicht schaut ihr euch bei einem zweiten Lesedurchgang auch einmal an, mit welchen handwerklichen Mitteln Mertens den Eindruck einer Großstadt suggeriert. Wie kann man mit Gekritzel so viel Tiefe entstehen lassen? Muste be some kind of magic!