Von Mäusen und Menschen (Rezension)

Beeindruckende, von Rébecca Dautremer illustrierte Adaption der berühmten Novelle von John Steinbeck

Die illustrierte Adaption der Novelle „Von Mäusen und Menschen“ von John Steinbeck ist ein richtiger Wälzer. Das 424 Seiten schwere Werk ist durchgehend illustriert und vermag es schnell eine Idee davon zu vermitteln, welch intensive Arbeit bis zur Fertigstellung notwendig gewesen sein muss. Im Nachwort erfahren wir, dass Dautremer von April 2019 bis August 2020 12-Stunden Tage im Atelier verbrachte. Durch die enorme Leichtigkeit ihrer Zeichnungen sieht man der Lektüre das allerdings kaum an, oder sind die vielen kleinen verwaschenen Farbklekse, die immer wieder in den Illustrationen zu finden sind, sinnbildlich Schweißtröpfchen?

Von träumenden Wanderarbeitern und amerikanischen Aufstiegsmythen

John Steinbecks Novelle handelt von den Wanderarbeitern George Milton und Lennie Small, die davon träumen, durch harte Arbeit irgendwann einmal eine eigene Farm kaufen zu können, um sich dort niederzulassen. Beim Versuch diesen Traum zu verwirklichen, treten sie aber ein ums andere Mal in Fettnäpfchen, die vor allem den schusseligen und kognitiv eingeschränkten Lennie magisch anzuziehen scheinen. Dieses Mal soll allerdings alles anders werden. Lennie und George heuern auf einer Farm an und George instruiert Lennie minutiös darin, niemals von alleine mit Fremden zu sprechen.

Anders sein macht Ärger

Curley, der Sohn des Chefs scheint es von vorneherein auf Lennie abgesehen zu haben und auch seine Frau scheint nichts Gutes im Schilde zu führen. Nicht mit anderen zu sprechen, fällt Lennie aber leider schwer. Hinzu kommen seine für die Außenwelt merkwürdigen Verhaltensweisen, wie die Vorliebe für das Streicheln von kleinen Tieren, bei dem öfter auch mal ein Lebewesen zu Schaden kommt. Früher oder später muss er trotz seines gutmütigen Wesens wohl oder übel wieder in ein Fettnäpfchen treten. Die Gesellschaft scheint viele davon bereitzuhalten…

Ein kammerspielartiges unaufgeregtes Stück amerikanischer Geschichte

Der Text von John Steinbeck wurde hier in Gänze für die illustrierte Ausgabe von Rébecca Dautremer übernommen. Es handelt sich hier um eine kammerspielartig ausgeformte Geschichte, die mit wenigen Schauplätzen auskommt und mit Dialogen aufwartet, die eine Umsetzung als Bühnenstück begünstigen. Die Wanderarbeiter auf der Farm jagen alle großen Träumen nach und stehen dennoch sinnbildlich für gescheiterte Existenzen.

Was bleibt vom American Dream, wenn man aufwacht?

Eindrücklich spielt Steinbeck mit dem amerikanischen Aufstiegsmythos und hält hier ernüchternd die triste Realität des Amerikas der 1930er Jahre entgegen. Dabei werden auch gesellschaftliche Exklusionsmechanismen wie der tief verankerte Rassismus thematisiert, der in der Novelle den schwarzen Stallburschen Crooks trifft. Auch Lennie mit seinen kognitiven Einschränkungen scheint kaum einen Platz in dieser gesellschaftlichen Struktur zu finden, die viel mehr Fallstricke bereithält als sichere Ankerplätze. Steinbeck beginnt seine Sequenzen oft mit einer Spielortsbeschreibung, in der er poetisch und mit großer Beobachtungsgabe die Natur im Kalifornien der 30er Jahre beschreibt. Diese Poesie rahmt die unaufgeregt erzählte Geschichte, die am Ende mit einem dramatischen Höhepunkt den American Dream infrage stellt.

Dautremer erschafft Traumbilder, die nach dem Aufwachen noch nachhallen…

Die Illustrationen in „Von Mäusen und Menschen“ von Rébecca Dautremer wirken wie Traumbilder, die nach einer Nacht voll intensiver Träume noch ein letztes Mal nachhallen, bevor sie sich für immer verflüchtigen. Dabei finden sich in Dautremers Werk collagenhafte Illustrationen, Werbeplakate im Retrostil der 30er Jahre, Landschaftsbilder in Aquarell und auch surreale Episoden, die doch immer starken Bezug zu den Textsequenzen aufweisen. Dautremer greift immer wieder handschriftlich Textpassagen als Zitate in den Illustrationen auf, um den Bezug zum Originaltext aufzuzeigen. Die einzelnen Illustrationen werden hin und wieder durch das Beibehalten der Vorskizzen in der finalen Version gebrochen und geben so ihre Konstruiertheit preis. Das gibt vielen der Zeichnungen einen flüchtigen, kurzweiligen Charakter, der fiebertraumhaft Realität und Fantasie miteinander verwebt und zu einem bunten Jahrmarkt bildhafter Poesie einlädt.

Ein Klassiker der Literatur in seiner besten Form

Rébecca Dautremer bietet uns mit ihrer Version von der Novelle „Von Mäusen und Menschen“ von John Steinbeck die bisher beste Form der Lektüre an. Die Verknüpfung der mit viel Liebe zum Detail durchdachten Illustrationen und dem starken Text von John Steinbeck bietet uns hier eine immersive Lektüre mit großem Wiederlesewert. Jede einzelne Seite kann dabei als ein eigenes Kunstwerk betrachtet werden, das liebevoll Textsequenzen aufgreift und den Rahmen der Geschichte dabei interpretativ erweitert.

Die Bilder umfließen den Text

Dautremer trifft dabei immer die Tonalität des Textes und verstärkt mit ihren Illustrationen die Kritik am American Dream und der Situation der Wanderarbeiter in den USA der 30er Jahre. Wer mit dieser Thematik etwas anfangen kann und Freude daran findet, sich in stimmungsvollen Bildern zu verlieren, kann bei Rébecca Dautremer ein Kabinett aus Collagen, 30er Jahre Retro-Illustrationen und wundervollen Landschaftsbildern finden, die die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verwischen. Andeutungen von Skizzen und Farbkleksen, die wahllos auf die Bilder getropft zu sein scheinen, reißen uns aber schnell wieder aus dieser Traumwelt, zeigen sie doch die Konstruiertheit von Dautremers Illustrationen. Damit scheint sie das Konzept des American Dreams kunstvoll zu dekonstruieren.

Von Mäusen und Menschen

ISBN: 978-3-98721-042-6

Erschienen am: 23.11.2022

Szenario John Steinbeck, Rébecca Dautremer

Zeichnung Rébecca Dautremer

Einband Hardcover, 20×26

Seitenzahl 424

Band 1 von 1

© Splitter Verlag
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