Winshluss – Pinocchio (Rezension)

Winshluss Pinocchio Beitragsbild

Winshluss zeichnet mit seiner Interpretation von Pinocchio einen bizarren surrealen Trip in die Abgründe der menschlichen Psyche

Eines sei vorweg erwähnt: Winshluss Interpretation von Pinocchio, die auf Deutsch beim Avant-Verlag erschienen ist, hat wenig mit der bereits bekannten Geschichte von Carlo Collodi zu tun und weist im Gegensatz zur märchenhaften Ausgestaltung des Originals eher einen verstörenden Charakter auf. Sie sollten es also tunlichst vermeiden, dieses Werk ihren Kindern in die Hände zu drücken. Das könnte zu Albträumen führen und später zu vielen Sitzungsterminen mit dem Psychotherapeuten. Winshluss Werk ist ein Faszinosum, das durch seine fabelhafte Gestaltung einen magischen Sog entfesselt, dem man sich gleichermaßen entziehen möchte, wird man doch mit allem denkbar Perfidem und Ekelhaftem menschlicher Existenz konfrontiert.

Pinocchios albtraumhaftes Abenteuer

Pinocchio ist in Winshluss Interpretation ein Roboter, der als Kriegsmaschine seinem Erschaffer Geppetto Geld einbringen soll. Dabei wird Pinocchio in einer Reihe von albtraumhaften Abenteuern verwickelt, die jeweils eng mit den Motiven und Schicksalen anderer Charaktere verbunden sind. Die Story lässt sich in Kürze kaum zusammenzufassen, gehen die einzelnen Episoden der Reise doch auf grotesker Weise ineinander über und werden doch verschiedenste Charakter immer wieder durch große Zufälle zusammengeführt. Offensichtlich genießt Winshluss das Spiel mit der Absurdität.

30er Jahre Disneylook mit surrealem Horror

Winshluss Kunst erinnert stark an die Disneyproduktionen der 1930er Jahre. Er greift dabei die schier grenzenlose, surreale Fantasie dieser Werke auf, entzieht ihnen jeglichen liebevollen Reiz und verunstaltet sie mit verstörendem und groteskem Horror. Diese Kombination funktioniert wirklich hervorragend, denn die Mischung beider Welten ergibt einen naiven albtraumhaften Ritt in das triebhaft düstere Es der menschlichen Psyche. Mord, Krieg, Verstümmelung, pervertierte Sexualität, Vergewaltigung, Umweltverschmutzung, Kindeswohlgefährdung, Armut, entfremdete Bürokratie: Kaum ein Werk vereint so viele gesellschaftliche Abgründe wie Winshluss‘ Pinocchio. Bis zum Schluss fragt man sich, ob hier lapidare Provokation im Vordergrund steht, oder doch eine tiefgreifende Gesellschaftskritik. Mit dieser Unsicherheit muss man bei dieser Lektüre wohl leben.

Wenig Worte, starke Bilder

Winshluss Pinocchio kommt mit wenig Text aus. Lediglich die Passagen, die von Jiminy Wanze handeln und wie ein Comic im Comic mit in die Story einfließen, sind durchgehend mit Text versehen. Die einzelnen Panels sind dabei so stark gezeichnet, dass sie die Geschichte auch ohne Text nachvollziehbar werden lassen. Winshluss versteht es, die Dynamik eines Momentes in ein Bild zu meißeln, das trotz seiner statischen Beschaffenheit das Vorher und Nachher dieses Momentes erlebbar macht. Diese Bilder sind Fixpunkte, die es den Lesern ermöglichen zwischen den Panels die fehlenden Puzzleteile der Story selbst problemlos zu imaginieren.

Psychologischer Horror für resiliente Leser

Winshluss Interpretation von Pinocchio ist sicher nicht für jeden Leser geeignet. Die verstörenden Bilder erfordern beim Rezipieren emotionalen Abstand und psychische Resilienz. Selbst hartgesottene Comicenthusiasten werden hier das ein oder andere Mal sprachlos zurückbleiben. Wer mit diesen Rahmenbedingungen umgehen kann, findet hier einen künstlerischen Geniestreich vor, der es auf intelligente und mutige Weise schafft, eine naive und fantastische Welt mit den psychischen Abgründen der menschlichen Existenz zu verderben. Wer sich Winshluss Pinocchio anschafft, wird nicht nur mit einem bildgewaltigen Höllentrip versorgt: Eine gehörige Portion Misanthropie gibt es gratis dazu!

© avant-verlag

Pinocchio

Neue Edition

Text & Zeichnung: Winshluss

Übersetzung aus dem Französischen von Kai Wilksen

Veröffentlichung: September 2022

ISBN: 978-3-96445-083-8

208 Seiten, Softcover

21 x 29 cm, vierfarbig

30,00 €

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