Ein Vertrag mit Gott – Mietshausgeschichten (Rezension)
Die geballte Ladung Will Eisner!
In der Will Eisner Bibliothek von Carlsen ist die Geschichtensammlung Ein Vertrag mit Gott – Mietshausgeschichten 2017 auf Deutsch erschienen. Dieses Werk ist mir durch Zufall im Comicladen meines Vertrauens in die Hände geraten und weil ich bisher ein großes Will-Eisner-Defizit hatte, wollte ich mich nun endlich mit dem viel gelobten Begründer des Graphic-Novel-Genres auseinandersetzen. So viel vorweg: Dieses Werk hat es in sich! Warum Eisners Werke auch heute noch so unfassbar gut funktionieren, erfahrt ihr in den nachfolgenden Zeilen.
Mehr als Tusche braucht es nicht!
Der Comicmarkt ist in der Gegenwart von quietschbunten und teilweise auf Hochglanz polierten und digital nachbearbeiteten Comics bevölkert. Offensichtlich nähert man sich hier gerne filmischen Vorlagen an und erschafft dadurch oft seelenlose Kunst aus der Konserve. Umso spannender und kontrastreicher wirken die Werke von Will Eisner aus heutiger Sicht. Beim Durchblättern von Ein Vertrag mit Gott – Mietshausgeschichten fällt sofort auf: Hier fehlt es an Farbe! Dieser erste Eindruck ist aber schnell vergessen, schafft Eisner es doch direkt auf den ersten Seiten seine Leser vollends in seinen Bann zu ziehen. Was an Farbe bei den Illustrationen fehlt, wird durch die tiefgründigen Charaktere, die liebevollen und glaubwürdigen Dialoge und der verzwickten Moral einer jeden Geschichte im ideellen Sinne bunt.
Geschichten aus dem Leben
Will Eisner braucht keine fantastischen und übernatürlichen Elemente. Seine Geschichten greift er direkt aus dem Leben. Ich musste dabei schnell an Theodor Fontane denken, der sagte, dass Schriftsteller wie Bildhauer seien. Das reale Leben liefere die Marmorblöcke, aus denen der Schriftsteller Skulpturen formt. Besser kann man die Arbeit von Will Eisner gar nicht beschreiben. Seine „Mamorblöcke“ bezog Eisner vor allem aus den armen Vierteln New Yorks.
Berühmt ist hierbei auch seine erfundene Nachbarschaft in der Dropsie Avenue, in der er viele Facetten des Lebens in der Weltwirtschaftskrise beschreibt. Dabei merkt man anhand der Authentizität seines Stoffes, dass Eisner selbst in einem solchen Viertel in Brooklyn in New York aufgewachsen ist. Teilweise lässt Eisner originale Zeitungsartikel mit in seine Erzählungen einfließen, um die Eindringlichkeit seines Stoffes zu untermauern. Selten sind mir Geschichten begegnet, die das Leben in der Stadt so facettenreich und feinfühlig erzählen. Dabei scheinen die einzelnen Schicksale immer irgendwie miteinander verstrickt zu sein. Das Agieren des Einen bedingt den Erfolg oder das Scheitern des Anderen.
Kapitalismuskritik am Modell
Die Verwobenheit der einzelnen Charaktere miteinander zeigt immer wieder, wie der Erfolg und das Scheitern miteinander zusammenhängen. In der Weltwirtschaftskrise sind selbst wohlhabendere Menschen nicht vor dem tiefen Fall geschützt. Im Raubtiergehege der industrialisierten Großstadt muss jeder kämpfen, um sich seinen Platz in der Nahrungskette zu sichern. Dabei legt Eisner den Fokus auch auf die kleinsten Einheiten des sozialen Lebens in der Mietskaserne. Was macht die Bedrohung durch Armut mit Vierteln, mit der direkten Nachbarschaft und mit den einzelnen Familien in der Mietskaserne? Feinfühlig und mit genial geschriebenen Dialogen nähert Eisner sich diesen Fragen an.
Spotlight auf jüdisches Leben
Jüdisches Leben spielt in Will Eisners Werken eine gewichtige Rolle, das mag wohl daran liegen, dass er selbst dem jüdischen Glauben angehörte. Die eigene biografische Erfahrung sorgt für authentische Einblicke in den jüdischen Alltag in den Mietskasernen Brooklyns. Religiöse Einflüsse und Fragestellungen fließen immer wieder in die moralischen Plots der einzelnen Geschichten mit ein, ohne dass die spirituellen Aspekte unreflektiert und unkritisiert blieben. So verhandelt Eisner in Ein Vertrag mit Gott die Unergründlichkeit Gottes Wege. Es geht um Zweifel am Glauben in schwierigen Momentan des Lebens. Auch die Flucht jüdischer Menschen vor dem Nazi-Regime spielt in einer Geschichte eine Rolle. Hier unterstützt ein in New York lebender Jude die Flucht einer Jüdin aus der nationalsozialistischen Diktatur.
Unerreichter Stil
Die Zeichnungen von Eisner sehen so unfassbar leichtfüßig aus und bieten doch eine ungeahnte Tiefe und einen hohen Detailgrad. Das liegt vor allem auch an Eisners gelungenem Spiel mit Licht und Schatten. Mit verschiedenen, intensiv angewendeten Schraffurtechniken schafft Eisner Tiefe in seinen Illustrationen. Dabei wissen vor allem die Großstadtszenen besonders zu gefallen. Die urbanen Settings in den Siedlungen Brooklyns üben einen ungeahnten Bann auf die Leser aus und verführen dazu, ein starkes Interesse am New York der zwanziger Jahre zu entwickeln.
Ein Vertrag mit Gott – Mietshausgeschichten scheint einen perfekten und unterhaltsamen Einstieg in die Werke Will Eisners zu bieten. Mit viel Witz, Moral und dramtischen Wendungen beschreibt Eisner mit seinem unverkennbaren Stil das Leben im New York am Anfang des 20. Jahrhunderts. Weltwirtschaftskrise, Nationalsozialismus und die kleinen familiären Dramen geben sich die Klinke in die Hand. Besonders reizvoll und authentisch sind die kleinen alltäglichen Geschichten der Familien, die in den Mietskasernen leben. Eisner zeigt eindrucksvoll, wie alle Menschen mit ihrem Tun miteinander verwoben sind. Das Handeln eines jeden hat Einfluss auf andere Individuen in der Gemeinschaft der Mietshäuser. Diese Zusammenhänge erzählt Eisner komplex und trotzdem außerordentlich zugänglich. Ein Vertrag mit Gott – Mietshausgeschichten muss eine klare Leseempfehlung bekommen.