Hypericum (Rezension)

Hypericum Beitragsbild

Turbulente Liebesbeziehung im Strom der Zeit

Im Avant-Verlag ist die deutsche Ausgabe von Hypericum, ein Werk des italienischen Künstlers Manuele Fior, erschienen. Wir schauen uns die poetische Geschichte über eine turbulente Liebesbeziehung im Berlin der 90er Jahre genauer an. Was haben Tutanchamun und das alte Ägypten mit der Geschichte zu tun?

Die Grabkammer des Tutanchamun und das wilde Berlin

In Hypericum begleiten wir Teresa, die aus Italien nach Berlin kommt, um dort einen Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Ausstellung des Tutanchamun-Schatzes anzutreten. Schon bei der Ankunft in Berlin steht Teresa die Überforderung ins Gesicht geschrieben. Im Gegensatz zu ihrem bisher sehr gradlinigem Leben, wird sie in Berlin mit dem turbulenten Großstadtleben konfrontiert. Hinzu kommen Teresas heftige Schlafstörungen. Ohne Medikamente bekommt sie kaum ein Auge zu. In Vorbereitung auf ihre Stelle liest Teresa deswegen in ihren schlaflosen Nächten die Geschichte von Howard Carter, dem Entdecker der Grabkammer des Tutanchamun. Immer wieder gibt es Ausbrüche aus der Haupthandlung und wir bekommen Eindrücke aus Ägypten und den Grabungen bebildert.

In der Gegenwart hat Teresa währenddessen versäumt, eine langfristige Unterkunft zu finden. Glücklicherweise trifft sie auf den Weltenbummler, Künstler und Hausbesetzer Ruben. Er löst schnell eine Faszination bei Teresa aus, bringt er ihr doch sonst so strukturiertes Leben heftig ins Wanken. Mit Ruben verliert sich Teresa im chaotischen Großstadtleben Berlins der 90er Jahre. Teresa kommt in ein von Ruben besetztes Haus unter und es entwickelt sich eine turbulente und leidenschaftliche Liebesbeziehung. Durch die dauerhafte Übermüdung Teresas erhitzt zunehmend ihr Gemüt und schon bald kommt es nach dem Höhenflug mit Ruben zum tiefen Fall…

Poetische Abhandlung über die Flüchtigkeit des Glückes

Die Exkurse zur Entdeckung der Grabkammer des Tutanchamun, liefern Manuele Fior die Basis, um philosophische Gedanken über Zeit und der Flüchtigkeit des Augenblickes in seiner Geschichte zu entwickeln. Die titelgebende Pflanze „Hypericum„, uns auch als Johanneskraut bekannt, schlägt dabei einen Bogen zwischen dem alten Ägypten und der Gegenwart von Teresa. Hypericum wurde als Grabbeigabe in die Sarkophage gelegt, um Dämonen zu vertreiben. Teresa nutzt es, um ihre Schlafstörungen in den Griff zu bekommen. Auch sie vertreibt damit also in gewisser Weise ihre Dämonen. Der rituelle Aspekt der ägyptischen Grabkammern steht dabei für den Versuch, das unaufhaltbare Fortschreiten der Zeit aufzuhalten, oder zu verlangsamen. Monumentale Bauten stehen der Fragilität der menschlichen Existenz gegenüber, fast so, als könnten sie den unweigerlichen Zerfall und die Mortalität des Menschen entgegenwirken.

Diese Philosophie steht der Fragilität und der Flüchtigkeit der turbulenten Liebesbeziehung von Teresa und Ruben gegenüber. Im Berlin der 90er Jahre scheint alles fluide zu sein. Das Individuum treibt im Fluss der Zeit. So ergeht es zunächst auch Teresa und Ruben. Leidenschaft kommt und Leidenschaft geht. Am Ende der Geschichte kommen Ruben und Teresa aber wieder zusammen. Wir erfahren nicht, wie das geschehen ist, finden sie aber in harmonischen Szenen in einer gemeinsamen Wohnung wieder. In dieser Szene passiert das unfassbare: Während Teresa und Ruben leidenschaftlich werden, ruft der Vater von Ruben an und berichtet davon, dass Flugzeuge in das World Trade Center geflogen sind. Teresa und Ruben schauen sich die schrecklichen Ereignisse gemeinsam bei Freunden an. Der Strom der Zeit läuft unaufhaltsam weiter, aber Teresa schläft in aller Seelenruhe im Schoße von Ruben…

Starke Bilder im doppelten Sinne

Manuele Fior arbeitet in Hypericum mit starken Bildern. Damit sind die wunderbar feinfühligen Illustrationen im gleichen Maße wie die starken metaphorischen Bilder gemeint. Die Zeichnungen Fiors bestechen dabei weniger durch ihre Details, als durch ihre harmonischen Farbtöne und der einfühlsamen Darstellung der Charaktere. An einigen Stellen werden die sexuellen Handlungen der Charaktere sehr explizit und dennoch unaufgeregt gezeichnet. Dieses Stilmittel unterstreicht den turbulenten Charakter der Liebesbeziehung zwischen Teresa und Ruben und wurde daher sehr sinnvoll eingesetzt, ohne den Verdacht von unnötiger Sexualisierung zu erwecken. Insgesamt dominieren in Hypericum warme und erdige Töne. Es wirkt so, als würde man der völlig übermüdeten Teresa in ihrem von Schlafentzug ausgelösten Rausch folgen. Die Lichter der Großstadt scheinen in einigen Darstellungen zu verschwimmen und unterstreichen damit den rauschhaften Eindruck.

Eine Graphic Novel mit Tiefgang

Hypericum ist ein Werk mit Tiefgang. Wer Geschichten mit mehreren Erzählebenen und philosophischen Ansätzen mag, wird hier ein Meisterstück der Erzählkunst vorfinden. Dabei regt die Geschichte nicht nur zum Nachdenken an, sie reißt die Leser auch auf emotionaler Ebene mit sich. Manuele Fior schafft es, mit seinen Illustrationen Gefühle und Stimmungen zu erzeugen, die eine fantastische Basis für die Rezeption der Geschichte bilden. Die vielen Metaphern bieten dabei Raum für spannende Gespräche über Fiors Werk. Daher kann hier bedenkenlos eine Empfehlung für einen Buddy Read ausgesprochen werden. Archäologiebegeisterte werden ebenfalls viel Freude an Hypericum haben, nimmt doch die Entdeckung des Grabes von Tutanchamun einen nicht unbeträchtlichen Teil der Geschichte ein. Die philosophischen Ansätze der alten Ägypter werden dabei auch immer wieder zum Thema der Geschichte. Insgesamt verdient Hypericum eine klare Leseempfehlung!

Hypericum

Text & Zeichnung: Manuele Fior

Übersetzung aus dem Italienischen von Myriam Alfano

Veröffentlichung: Mai 2023

ISBN: 978-3-96445-093-7

144 Seiten, Hardcover 

22 x 29,5 cm, vierfarbig

© Avant-Verlag

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