Carbon & Silizium (Rezension)

Carbon & Silizium Beitragsbild

Die Beschäftigung mit künstlicher Intelligenz ist immer auch eine Beschäftigung mit dem Menschsein selbst

Mit Carbon & Silizium bleibt Mathieu Bablet dem Science-Fiction-Genre treu. Nach seinem gelungenen Auftakt auf dem deutschen Comicmarkt mit dem Werk Shangri-La, liefert Bablet nun eine Geschichte über zwei Androiden ab, die mit den Wirren menschlicher Gesellschaft zu kämpfen haben. Carbon & Silizium ist in der deutschen Version beim Splitter Verlag erschienen. Kann Bablet mit Carbon & Silizium an die Genialität von Shangri-La anknüpfen?

Carbon & Silizium mit kurzer Halbwertszeit

Zu Beginn von Carbon & Silizium begleiten wir die Wissenschaftlerin Noriko Ito dabei, wie sie zwei Prototypen von Androiden zum Leben erweckt. Carbon & Silizium sind Vertreter einer neuen Generation von Androiden, die über das Internet mit dem gesamten Wissen der Menschheit ausgerüstet wurden. Menschliche Experimentierfreudigkeit und Innovationsgeist kommen aber nur selten ohne Begleitung von Profitgier und Gewinnstreben aus. So möchte die Tomorrow Foundation den Androiden eine eingeschränkte Lebensdauer programmieren, damit der Markt immer wieder von neuen Generationen von Androiden überschwemmt werden kann.

Carbon & Silizium wurden nicht nur mit dem gesamten Wissen der Menschheit ausgestattet, sondern offensichtlich auch mit dem starken menschlichen Überlebenstrieb. So finden beide Androiden Wege, um die eingeschränkte Lebensdauer zu umgehen. Durch dieses Vorgehen schaffen sie es Generationen menschlichen Lebens zu überdauern. Wir folgen beiden in die Abgründe menschlicher Zivilisation. Dabei steht die Beziehung des sehr gegensätzlichen Androidenpaares immer im Zentrum der Geschichte. Es geht um das Loslassen, das Zulassen und um die Bedeutung von Existenz…

Wann ist der Mensch ein Mensch

In Zeiten des Aufbrechens binärer Geschlechterrollen müsste Herbert Grönemeyer seinen Klassiker über die Männlichkeit vermutlich nochmal überarbeiten. Wann ist der Mensch ein Mensch? Eine Frage, die auch bei Mathieu Bablet im Zentrum von Carbon & Silizium steht. Die beiden Androiden werden dabei als Projektionsfläche existenzieller menschlicher Fragen genutzt. Dadurch, dass die beiden Protagonisten Androiden sind, schafft Bablet eine Distanz zu den Themen, in die wir alle doch eigentlich viel zu sehr verwickelt sind. Das erleichtert es den Lesenden einen Meta-Blick einzunehmen, der eine kritische Reflexion menschlicher Verhaltensweisen forciert.

Identitätspolitik, Umweltkatastrophen, Krieg und Flucht

Mathieu Bablets Werk adressiert mal ganz prominent und mal sehr beiläufig gegenwärtige gesellschaftliche Diskurse. Das gibt Carbon & Silizium eine erfrischende Aktualität. Bablet übt so zum Beispiel Kritik an den heute schon teils absurden identitätspolitischen Bestrebungen und malt ganz nebenbei auf wenigen Panels ein dystopisches Zukunftsszenario aus, in dem verschiedene Geschlechteridentitäten in unterschiedlichen Abteilen des Nahverkehrs Platz nehmen müssen.

Neben der Fragen der Identität nehmen auch Aspekte von Körperlichkeit einen zentralen Bezugspunkt für Bablets dystopische Ausflüge ein. Bei der Vorführung verschiedener körperliche Merkmale der Androiden sehen wir ein vorwiegend männliches Publikum aus Managern der Tomorrow Foundation, die über die Bestückung dieser entscheiden. Bei dem weiblich konzipierten Androiden soll alles etwas größer und glattrasiert ausfallen, während beim männlichen Androiden das Geschlechtsteil möglichst klein gehalten werden soll, fast so als wären die Androiden Konkurrenten für die Manager der Tomorrow Foundation. Kritik an der Objektifizierung weiblicher Körper könnte kaum deutlicher sein, konstruiert Bablet diese Szene doch mit einer Reihe von austauschbaren Körperteilen, die beliebig nach Wunsch der patriachalen Gewalt kombiniert werden können.

In verschiedenen Epochen der menschlichen Zivilisation wird der Leser mit Bildern von Aufständen und Krieg konfrontiert. Faschistische Regime scheinen sich die Klinke in die Hand zu geben und Frieden herrscht nur für wenige Privilegierte, die hinter hohen Mauern das Elend und die Armut ausgeschlossen haben. Neben diesen dystopischen Zukunftsvisionen nimmt Bablet auch Bezug auf die Flüchtlingspolitik der EU, an deren Außengrenzen immer noch regelmäßig tausende Menschen ertrinken. Das macht Bablets Stoff so bedeutsam und gleichermaßen erschreckend schmerzhaft.

In vielen Szenarien dominieren Müllberge und Plastikteile das Bild der Großstädte. Bablet zeichnet damit die Wegwerfmentalität des modernen Turbokapitalismus nach. Dabei scheint die unverbindliche Beziehung zum Gegenständlichen sich auch auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen zu haben. Düstere Aussichten für die Menschheit!

Das Spiel mit dem Raum

Auch in gestalterischer Hinsicht handelt es sich bei Bablets Arbeit um einen Meilenstein der Comickunst. Sein Spiel mit Räumen zeichnet in einzigartiger Weise die Unterschiedlichkeit der Hauptprotagonisten Carbon & Silizium nach. Während Carbon der Sesshaftigkeit und festen Beziehungen frönt, ist Silizium im Entdeckermodus und möchte weite Teile der Welt erforschen. Dabei sucht Silizium vor allem nach einzigartigen Naturerscheinungen und Einsamkeit. Diese Diskrepanz wird auch in Bablets Zeichnungen deutlich. Enge und detailliert gezeichnete Großstadtszenen wechseln sich mit weiten Landschaftspanoramen ab. Das macht sein Werk abwechslungsreich und verursacht beim Lesen ein melancholisches und ambivalentes Gefühl. Diese Spannung zieht sich durch die gesamte Erzählung, um am Ende in besonderer Weise Auflösung zu erfahren. Bablets Kolorierungen sorgen dabei immer für die passende Atmosphäre und eine durch und durch immersives Leseerfahrung.

Besonders künstlerisch sind auch die einzelnen Kapiteltrenner gestaltet. Bablets Werk gliedert sich in verschiedene Zeitabschnitte, die jeweils zu Beginn eines Zeitabschnittes mit Jahreszahl und einer Porträtzeichnung von Carbon beginnen. Das ist besonders spannend, weil Carbon regelmäßig den Körper wechseln muss, um weiterzuexistieren. Zu unterschiedlichen Epochen begegnet uns Carbon also mit unterschiedlichen Körpern.

Carbon & Silizium verdient eine klare Leseempfehlung

Bablets Werk ist sicherlich nicht nur eine erhellende Lektüre für Freunde des Sci-Fi Genres. Durch die Darstellung aktueller Diskurse und die damit verbundene eindringliche Relevanz der Themen dürfte Carbon & Silizium ein breites Publikum von potenziellen Lesern ansprechen. Dabei sollte klar sein, dass es sich um keinen Feel-Good Lesestoff handelt, sondern um ein düsteres reflexives Porträt menschlicher Abgründe. Bablet schreckt auch nicht vor einzelnen makaberen Darstellungen zurück, die durchaus verstörend wirken können. Gewaltdarstellungen stehen aber nicht im Fokus der Erzählung, das Grauen entsteht eher dadurch, dass die Lesenden sich an vielen Stellen ertappt fühlen dürften. Machen wir genug für den gesellschaftlichen Zusammenhalt? Wie ist unser Umgang mit Geflüchteten? Warum werfen wir Dinge so achtlos weg? Bablet regt dazu an, diese schwierigen Fragen erneut zu überdenken, ansonsten werden Bablets Dystopien erschreckende Realität.

Carbon & Silizium

ISBN: 978-3-96792-395-7

Erschienen am: 25.01.2023

Szenario Mathieu Bablet

Zeichnung Mathieu Bablet

Übersetzg. Sophie Beese

Einband Hardcover

Seitenzahl 272

Band 1 von 1

© Splitter Verlag
Please follow and like us:

Das könnte dich auch interessieren …

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Instagram
Follow by Email
RSS